EventsStoriesTracks

Orbit360 NRW: Ein langer Tag

„Normale“ Events sind dieses Jahr so gut wie nicht möglich. Dem Virus sei Dank. Aber die Gravel-Szene steckt höchstens die Reifen in den Sand, gewiss nicht den Kopf.

Mit Orbit360 gibt es eine neue Gravel-Serie, die absolut coronakompatibel ist und dabei jede Menge Spaß verspricht. 16 Routen jeweils um die 250 Kilometer lang gibt es. In jedem Bundesland eine. So kann sich jeder vor der eigenen Haustür in ein Abenteuer stürzen und/oder deutschlandweit auf Punktejagd gehen. Denn entweder man fährt die gescouteten Routen einfach für sich selbst nach oder man begibt sich in den Race-Modus. Dann gilt es, so viele Orbits wie möglich abzufahren. Und dabei natürlich auch noch möglichst schnell zu sein. Die Ergebnisse werden über die persönlichen GPX-Aufzeichnungen ausgewertet.

Orbit NRW – Einmal Eifel mit allem

Ich habe mir am 12. Juni den NRW-Orbit vor meiner Haustüre vorgenommen. Und ich habe mir gesagt: Ich will es wissen! Satt eines Overnighters habe ich beschlossen, die 250 Kilometer in einem Rutsch fahren zu wollen. Für mich wäre es die längste Gravel-Tour bis dato. Und auch für mein neues Canyon Grail wäre es ein erster Härtetest.

Um 4:35 Uhr starte ich im Dunkeln am Kölner Stadion. Lieber morgens fit im Dunkeln fahren, als abends müde, habe ich mir gedacht. Und da ich keine Ahnung habe, wie lange ich für die 250 Kilometer brauchen werde, will ich lieber auf Nummer Sicher gehen.

Warmfahren zum Wachwerden

Durchs Kölner Stadtgebiet ist alles easy. Zum einen kenne ich mich aus, und zum anderen ist das Fahren in der Dunkelheit auf Asphalt und Feldwegen gar kein Problem. Im dunklen Wald ärgere ich mich dann aber schon ein bisschen über meine mäßige Beleuchtung. Zudem ist meine Befestigung am Canyon-Doppellenker suboptimal. Aber egal, die herrliche Stimmung mit den zahlreichen Vögelchen, die ich vom Weg aufscheuche, und der Ruhe ist toll.

Doch noch schöner ist der Sonnenaufgang gegen Viertel nach Fünf und das Zwitschern der Vögel, das nun losgeht. Vorbei ist es mit der Ruhe. Irre, was im Wald so morgens früh alles los ist! „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ – jetzt verstehe ich.

Die ersten 50 Kilometer sind echt locker, zuletzt immer dem Flüsschen Erft folgend. Doch das ist nur das Warmfahren. In Euskirchen gönne ich mir einen ersten Kaffee und dann ab in die Eifel! Jetzt beginnt der knackige Teil des Orbit360 NRW. Und der landschaftlich wunderschöne!

Als mich meine Freundin Anja um 7:04 Uhr per WhatsApp fragt, wann es losgeht, habe ich schon 67 Kilometer geschafft. Ich sag’s ja: Der frühe Vogel…

Blick auf die Uhr mit Hallo-Wach-Effekt

In Kall (zirka Kilometer 80) fahre ich am Bahnhof vorbei. Die Uhr zeigt 13:22. Oh, so spät schon – und noch so viele Kilometer to do. Das wird doch eine enge Kiste, denke ich. Verunsicherung und Zweifel machen sich breit. Zum ersten Mal, seit ich im Sattel sitze. Wo waren nochmal die nächstgelegenen Bahnhöfe, die mich zurück nach Köln bringen können? Was war das nur für eine Schnappsidee? Da hast du dich wohl ein bisschen überschätzt!…

Wenige Kilometer weiter setzt mein Verstand wieder ein. 13:22 Uhr – das kann doch gar nicht sein! Die Uhr ging falsch. Völlig falsch. Danke, Deutsche Bahn. Da kommt die Fußgängerzone von Schleiden doch wie gelegen. Bei so viel plötzlich gewonnener Zeit, kann man ja erst mal ein bisschen entschleunigen, denke ich. Der Schock verdaut schneller gemeinsam mit einem Kaffee und einem Stück Streuselkuchen. Nebenan stehen die Leute für ihre Sonntagsbrötchen Schlange. Ich sitze schon beim dritten Frühstück des Tages und habe mit 90 Kilometern das Tagwerk so manch anderer Hobbysportler bereit vollbracht. Ein wahnsinnig tolles und stolz machendes Gefühl!

Europa zum Anfassen

Hinter der Oleftalsperre folge ich ein kleines Stück der belgischen Grenze. Ohne es zu merken. Ein Hoch auf Europa! Für mich ist dies auch landschaftlich der schönste Abschnitt des Orbit360 NRW. Man streift die Ausläufer des Hohen Venn und fährt durch eine Heidelandschaft, wie man sie sich mit einem Gravelbike nicht schöner wünschen könnte. Das ist Gravelmania pur!

Hinter dem ehemaligen Truppenübungsplatz Vogelsang mache ich einen kleinen Abstecher nach Dreiborn. Ich hatte mir im Vorfeld das Café Kupp als Einkehrmöglichkeit bei Halbzeit herausgesucht. Was für eine gute Wahl! Ich schreibe eine WhatsApp an meine Freund*innen:

125 Kilometer geschafft. Jetzt gibt’s Rührei. Ich hab das Gefühl, ich mache nur Pausen. 🙂 Die nächsten 25 Kilometer werden heftig, aber dann hab ich das Schlimmste hinter mir.

Das Rührei ist phantastisch. Und es gibt Power – genial. Beine: top! Spaß: top! Motivation: top! Bis hierhin ist es einer meiner tollsten Radtag überhaupt – und davon gab es reichlich, die Konkurrenz ist also groß.

Die Eifel macht mir den Abschied leicht

Noch geht es landschaftlich wunderschön weiter. Aber das bleibt nicht mehr all zu lange so. Nach der Heidelandschaft komme ich zurück in dicht bewaldete Gebiete der Eifel. Und wie in so vielen Ecken NRWs, hat auch hier der Borkenkäfer sein Unwesen getrieben. Kaputte Fichten, kahlgeschlagene Schneisen, von den Waldarbeiten zerstörte Wege – wer kennt es nicht?

Dafür sind die topografischen Nadelstiche sanfter, als ich sie erwartet hatte. Es geht zwar wirklich ständig auf und ab, aber ich habe längst meine Reisegeschwindigkeit gefunden. Die ist nicht wahnsinnig schnell, dafür habe ich das Gefühl, sie noch ewig aufrechterhalten zu können. Und so kurble ich mich eine Rampe nach der anderen hoch und schaffe es erfolgreich, das Schieben zu vermeiden.

Den Abschied aus der Eifel macht mir der Track des Orbit360 NRW dann leicht. Statt eines flowigen Trails bringt mich eine uncharmante Waschbetonpiste wieder runter ins Rheinland. Das hatte ich mir spaßiger vorgestellt. Aber was soll’s?

Der Braunkohletagebau verleiht mir Flügel

Am Fuße der Eifel komme ich ins Rheinisch Braunkohlerevier. Die mir bekannten Tagebaugebiete sind für mich Motivation genug, diese zerstörte Landschaft so schnell wie möglich hinter mir zu lassen. Und mit dem Druck auf dem Pedal, der mich in der Eifel die Berge hinauf gebracht hat, rollt es in der Ebene und mit dem hier üblichen (West=)Rückenwind erstaunlich gut.

Im Hambacher Forst werde ich emotional. Im Wald sind nur noch wenige Reste ehemaliger Barrikaden und Baumhäuser zu sehen. Doch die Bilder, die vor einigen Monaten durch die Medien gegangen sind, bleiben im Gedächtnis. Nichtsdestotrotz wird womöglich noch das ein oder andere Dorf, durch das ich heute fahre, dem Tagebau geopfert werden. Eine Schande, meiner Meinung nach.

Als ich zurück an der Erft bin, mache ich eine letzte Riegelpause. Ich tippe in mein Handy:

Noch 24 Kilometer. Ich bin langsam im Arsch! Jetzt soll Red Bull mal zeigen, was es kann!

Tatsächlich gönne ich mir zu meinem Energieriegel jetzt die Dose Red Bull, die ich 230 Kilometer durch die Gegend geschleppt habe. Totaler Schwachsinn! Aber dass ich mich auf die stinkende, klebrig-süße Brause freue, ist Spiegelbild meines geistigen Zustands: ein Endorphinrausch vernebelt so einiges. Und ja, ich muss es zu geben: In diesem Moment schmeckt das Gesöff echt lecker!

Ich habe gewonnen!

Schon längst ist mir klar: Diese Challenge werde ich gewinnen! Seit dem Schock durch die DB-Uhr in Kall habe ich nicht mehr eine Sekunde daran gezweifelt, dass ich die 250 Kilometer schaffen werde. Und jetzt, wo ich im mir bekannten Großraum von Köln bin, ist es sowieso keine Frage mehr. Tendenziell geht es nach Köln bergab und der Stalltrieb treibt mich nach Hause. Jeder Höhenmeter tut jetzt weh und ist vor allem unendlich langsam, aber wo es geht, gebe ich so gut es geht Gas, denn ich will nach Hause. Mir tut nichts weh – nicht der Hintern, nicht der Rücken, nicht die Hände – aber mein Geist ist müde wie nach einem langen und anstrengend Arbeitstag.

Nach 252 Kilometern stoppe ich meinen Tacho dort, wo ich ihn vor 15 Stunden gestartet hatte – am Rhein-Energie-Station. Der Computer bilanziert nüchtern: Neuer persönlicher Rekord – Längste Strecke

252 Kilometern

3.088 Höhenmeter

6.956 Kalorien

14:59 Stunden verstrichene Zeit

13:18 Stunden in Bewegung